Jugendbuch

Rezension: Jandy Nelson – Ich gebe dir die Sonne

Ich gebe dir die Sonne ist eins der Bücher, dessen Cover ich schon auf vielen Blogs gesehen, mir aber (warum auch immer) die Rezensionen nicht so richtig durchgelesen habe – ich glaube, ich habe es einfach aufgrund des Covers als Buch abgetan, das mir vermutlich nicht gefällt. Habe es für zu seicht und zu „schon hundert Mal in anderer Form gelesen” gehalten. Ein Irrtum. Ein zweites Mal hat mich meine Mutter an Weihnachten darauf aufmerksam gemacht, die Ich gebe dir die Sonne als Leseempfehlung in einer Zeitung (war es die ZEIT?) entdeckt und mir den Artikel herausgetrennt hat. So hat das Buch ein zweites Mal meine Aufmerksamkeit erhalten und erst im zweiten Anlauf den Wunsch bei mir geweckt, es zu lesen.

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Inhalt kurz zusammengefasst

Jude und Noah wachsen als symbiotisches Zwillingspaar in einer intakten Familie auf. Jude kann nicht ohne Noah, Noah nicht ohne Jude. Sie spüren, dass der andere weint, wenn sie in getrennten Räumen sind und verkörpern auch sonst klassische Zwillingsklischees und -mythen.

Bis sich alles ändert. Noah gibt sich geradezu exzessiv seiner künstlerischen Leidenschaft hin und verliebt sich in den neuen, faszinierenden Nachbarsjungen. Aufgrund seiner Homosexualität und seiner sensiblen, introvertierten Art ist er ein beliebtes Objekt für Hohn, Spott und sogar körperliche Angriffe anderer Kinder bzw. Jugendlicher. Jude hingegen entdeckt Lippenstift, fragwürdige Outfits und die Jungs für sich, die Noah wegen seiner Sensibilität und Zartheit drangsalieren. Aufgrund ihres guten Aussehens und ihrer koketten, draufgängerischen Art bildet sie nach außen hin den Gegenpool zu Noah.

Wenige Jahre und eine Familientragödie später herrscht eisige Kälte zwischen den Zwillingen, deren Eigenschaften und -heiten sich binnen drei Jahren in das Gegenteil gewandelt zu haben. Noah hat der Malerei abgeschworen, Jude beziehungstechnisch dem männlichen Geschlecht und möchte von Liebe nichts mehr wissen. Noah hat sich besser integrieren können, Jude ist zur Einzelgängerin mutiert, die Selbstgespräche führt – denken Außenstehende. Dabei redet sie eigentlich mit zwei verstorbenen Familienmitgliedern, die eben nur sie sehen kann.

Für eine Wendung im gespaltenen Verhältnis der beiden Teenager sorgt ein junger, geheimnisvoller Künstler, in den Jude sich – trotz Männerboykott – unsterblich verliebt.

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Wie war’s?

Nach meiner Einleitung in diesen Blogpost möchte ich zunächst vorweg nehmen, dass ich es nicht bereut habe, dieses Buch gelesen zu haben – auch wenn es mich erst im zweiten Anlauf von sich überzeugen konnte (normalerweise kann ich innerhalb von Sekunden entscheiden, ob ich ein Buch lesen möchte oder eher nicht).

Ich gebe dir die Sonne ist ein besonderes Jugendbuch; das zieht sich von der Erzählstruktur über sprachliche Stilmittel bis hin zu den Protagonisten. Bereits der Aufbau erfordert ein wenig geistige Flexibilität: Die Geschichte springt nicht nur zwischen den Perspektiven Noahs und Judes hin und her, sondern auch zwischen den Lebensjahren 13 und 16 der Zwillinge – alles mit dem Ziel, sich dem Ereignis anzunähern, das zur emotionalen Spaltung der beiden geführt hat.

Auch erzählerisch hält Nelson einige Überraschungen für den Leser bereit. Statt zu beschreiben, wie Noah sich in Situation X fühlt, fügt sie eine kurze Beschreibung des Bildes ein, das Noah im Geiste zur Situation anfertigt. Des Weiteren arbeitet sie stark mit Diskrepanzen zwischen Gedachtem und Gesagten. („Ich liebe dich”, sage ich, aber man hört nur ein „Hey”.) Neben diesen Stilmitteln ist mir aber auch Nelsons metaphorische Sprache im Allgemeinen aufgefallen, die sich keiner schon tausendfach gelesenen Vergleiche bedient, sondern immer wieder exotische Beschreibungen für alltägliche Dinge und Gefühle findet.

Ich gebe dir die Sonne ist für mich ein in vieler Hinsicht außergewöhnliches Jugendbuch mit gelungenen Enthüllungen und emotionalen Abgründen, das ich gerne weiterempfehle.

Kleiner Kritikpunkt: Oscar, der Künstler, in den Jude sich verliebt und der alle Klischees des verwegenen Bad Boys bedient, in die sich die Tochter aus solidem Elternhaus verliebt. Dennoch: Wer eine so besondere Geschichte mit einer so besonderen Sprache erzählt, dem sei eine vor Stereotypen strotzende Figur erlaubt.

Eine kurze Passage aus Ich gebe dir die Sonne

Durchs offene Fenster höre ich Prophet, den neuen Papagei unserer Nachbarn. „Verdammt, wo ist Ralph?”, krächzt er. „Verdammt, wo ist Ralph?” Das ist das Einzige, was er sagt, und er sagt es rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Keiner weiß, wer – geschweige denn wo – Ralph ist.
(Jandy Nelson, Ich gebe dir die Sonne, Seite 26)

Infos

Ich gebe dir die Sonne / Jandy Nelson / Übersetzerin: Catrin Fischer / cbt / 2016 / 480 Seiten / ISBN: 978-3-570-16459-4 / Preis: 17,99 Euro /

4 Comments
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4 Comments

  • Sommermaedel22

    Hallo Inga,

    über dieses Buch bin ich nun schon so oft im Internet gestolpert. Sei es auf Instagram oder Twitter oder eben auf Blogs. Aber bisher hat es niemand geschafft mich auf dieses Buch neugierig zu machen, doch deine Rezension ruft gerade zu: Lies mich.
    Bisher habe ich dem Buch wirklich keinerlei Beachtung geschenkt, aber jetzt muss es definitiv auf die Wunschliste wandern.

    schönen Abend
    Corinna

    • schonhalbelf

      Hallo Corinna,
      das freut mich! Man muss sich natürlich im Klaren darüber sein, dass es immer noch ein Jugendbuch ist und dass es zum Beispiel nicht vergleichbar mit „Die Geschichte der Baltimores” ist, in welchem ebenfalls eine Familie auf eine Katastrophe hinsteuert. Trotzdem fand ich es abgesehen von ein paar kleinen Ausnahmen wirklich mal etwas anderes und gerade für Leser, die eine kreative Sprache zu schätzen wissen, empfehlenswert. Jetzt bin ich natürlich auch sehr gespannt darauf, wie dein Urteil ausfallen wird.
      Viele Grüße und viel Spaß beim Lesen!
      Inga

  • Sandy

    Liebe Inga,
    „Ich gebe dir die Sonne“ ist so eines dieser Bücher, welches mich wohl so lange verfolgen wird, bis ich es endlich gelesen habe. Vereinzelt ist mir zu Ohren gekommen, dass viele mit den ersten fünfzig Seiten gehadert haben, die Handlung und Schreibe dann aber ungeheuer entwickelt. Nun schätze ich dich ja als eher kritische Leserin von Jugendbücher ein (wie ich auch in dieser Rezension lese), was mir auch sehr gefällt. Daher wird Jandy Nelsons Geschichte ganz sicher für den Frühling/Sommer auch bei mir kritisch gelesen.

    Sonnige Grüße,
    Sandy

    • schonhalbelf

      Hallo Sandy,
      wie oben geschrieben ging es mir ähnlich – ständig habe ich dieses Buch irgendwo gesehen und habe doch gezögert. Das Problem, in das Buch rein zu kommen, hatte ich eigentlich nicht. Es hat evtl. gewisse Längen, aber alles in allem hat es mir gut gefallen, eben weil es so ungewöhnlich geschrieben ist. Und du hast recht, ich bin kritisch, nicht nur bei Jugendbüchern. 😉 Aber es stimmt schon, bei Jugendbüchern achte ich besonders auf die Qualität; „Paris, du und ich” zum Beispiel gefiel mir ja überhaupt nicht, weil es mir einfach zu platt war. Dabei bieten gerade Jugendbücher so viele Chancen zu überraschen und neue, moderne Ansichten zu vertreten!
      Liebe Grüße und viel Spaß beim Lesen!

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