Rezensionen

Åsne Seierstad – Einer von uns

Heute vor genau fünf Jahren beging der Norweger Anders Behring Breivik die grausamen Anschläge in Oslo und auf Insel Utøya, im Rahmen derer er 77 Menschen um ihr Leben brachte. Åsne Seierstad hat über den Täter, die Tat und die Opfer eine literarische Reportage geschrieben, die in meinen Augen zur Pflichtlektüre werden sollte.

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Inhalt kurz zusammengefasst

Es fällt schwer, kurz zusammenzufassen, was Åsne Seierstad mit „Einer von uns” geleistet hat. Wer zu ihrer literarischen Reportage greift, muss sich auf einiges gefasst machen.

In der ersten Hälfte protokolliert sie vorwiegend das Leben des Täters – akribisch, immer wieder mit Auszügen seines Tagebuchs. Sie durchleuchtet seine Kindheit, seine familiären Verhältnisse, seine Ideologien und schildert die geradezu manische Vorbereitung seiner Tat. Sie zeichnet das Profil des Terroristen schonungslos ehrlich und lässt den Leser mit dem kranken Gedankengut Breiviks und seinem bestialischen Plan zurück.

Nebenbei führt sie einige der späteren Opfer ein und gibt zahlreiche wichtige Hintergrundinformationen zur politischen Situation Norwegens und deren Veränderung über die gesamte Lebenszeit von Breivik bishin zur Tat und zeigt, welche Auswirkungen sie auf Breiviks Gesinnung hatte.

Ziemlich genau zur zweiten Hälfte beginnt über knapp einhundert Seiten die Schilderung des Attentats in Oslo und auf Utøya. Seierstad dokumentiert die Tat minutiös, als sei sie live dabei gewesen – dessen sollte man sich bewusst sein, bevor man beginnt, „Einer von uns” zu lesen. Auffällig hier ist, wie sich die Erzählweise der Autorin ändert. Kam sie mir im ersten Teil noch eher beobachtend und teilweise fast wertungsfrei vor, übt sie im zweiten Teil wesentlich deutlichere Kritik an den zahlreichen Versäumnissen, Unaufmerksamkeiten und auch Missverständnissen, die am 22. Juli 2011 bei der norwegischen Polizei im Umgang mit dem Terrorakt geschehen sind und vielleicht sogar die Massenhinrichtung auf der Insel hätten verhindern können. Auch kommen hier verstärkt romantypische szenische Elemente zum Einsatz und der sachliche Ton einer Reportage wird leiser.

Seierstads Text beruht auf Aussagen und Zeugenberichten von Breiviks Familie, seinen Freunden, Augenzeugen, den Familien der Opfer und nicht zuletzt seinen eigenen Äußerungen. Zusätzlich hatte sie Zugang zu sämtlichen Dokumenten der Osloer Sozialbehörden. Die Planung des Angriffs konnte sie mithilfe von Breiviks Tagebuch und seines Manifests rekonstruieren.

Wie war’s?

Åsne Seierstad zeichnet das Psychogramm eines Menschen, der mit seiner idelogischen Motivierung in kein Schema zu passen scheint.

Es wirkt, als habe sie jede Begegnung, jede Enttäuschung, jede Aggressivität in seinem Leben nachgespürt und mit jedem gesprochen, der Breivik in irgendeiner Art und Weise einmal begegnet ist. Genau dadurch schafft sie es, eine so exakte Beschreibung des Mannes abzuliefern, der diese grausame Tat begangen hat.

„Einer von uns” hat in mir körperliche Reaktionen verursacht; allen voran Übelkeit. Übelkeit als Reaktion auf Breiviks Charakter, Übelkeit als Reaktion auf seine Tat, die man zwar in den Medien nachverfolgen konnte, aber eben nicht so, wie es in dieser Reportage geschieht.

Immer wieder zeigt Seierstad auch Wege auf, die Breivik und somit das Leben seiner Opfer hätten retten können – stellt aber indirekt auch die Frage, ob manche Menschen vielleicht tatsächlich von Geburt an „böse” und verdorben sind.

Weiterer Pluspunkt: Obwohl sie sich so intensiv mit dem Täter auseinandersetzt, widmet sie auch einen großen, großen Teil den Opfern und verleiht ihnen eine Stimme.

Rundum gelungen und definitiv eine Leseempfehlung von mir!

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Eine kurze Passage aus dem Buch

„Einen Moment wog er ab, ob er leben oder sterben wollte. Schließlich entschied er sich fürs Leben. Er musste sich an den Plan halten. Phase eins war das Manifest, Phase zwei umfasste die Bombe und Utøya, Phase drei beinhaltete den Prozess.”
(Åsne Seierstad, Einer von uns, Seite 356)

Infos zum Buch

Einer von uns / Åsne Seierstad / Übersetzer: Frank Zuber und Nora Pröfrock / Kein & Aber / 2016 / 544 Seiten / ISBN: 978-3036957401 / Preis: 26,00 Euro /

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